Lesestoff: Jenseits

8 Mär

Da liegt ein totes Mädchen im Wald. Zusammen mit ihrer Schultasche. Ihr Name ist Aurora und niemand scheint sie zu vermissen. Aurora heißt auch die fröhliche, winzige junge Dame, deren Date außerhalb Auroras totem Körper endete und die sich nun bemüht, den anderen kleinen Leutchen das Überleben zu sichern. Aurora organisiert Essen und Unterkünfte – aber niemand ist ihr wirklich dankbar. Sie bemüht sich um Zusammenhalt und Freundschaft – aber in ihrer Welt herrscht Einsamkeit und Tod, ohne dass es jemanden auffallen würde.

Jenseits von Kerascoët ist ein schwer zu beschreibender Comic. Im „Funny Stil“ gehalten erinnern die Figuren an Charaktere, die  man vielleicht in den guten, alten, lustigen Zietungsstrips finden könnte. Lustig oder gar harmlos sind sie aber nicht. Was zunächst wie ein Überlebenskampf  à la LOST beginnt, bei denen viele Charaktere durch die Gefahren der Umwelt bzw. der Natur ausgelöscht werden, wandelt sich schnell in einen Alptraum der Zwischenmenschlichkeit. Denn nach und nach werden die Figuren brutaler, werden aus Unfällen und Unachtsamkeit, Unmenschlichkeit, Heimtücke und schließlich Mord.

Gerade diese langsame Eskalation schnürt einem beim lesen langsam den Hals zu. Einige Szenen sind wie direkte Schläge in die Magengrube. Dabei sieht man die Figuren nicht sterben – wie in alten Kinderserien verschwinden sie einfach und sind dann weg. Überhaupt wirkt vieles an dieser Geschichte wie ein brutales Kinderspiel. Gerade das macht diesen Comic so verstörend.

Hinzu kommt, dass der Comic auch keine Erklärungen bietet. Warum die große Aurora tot ist (woran sie überhaupt gestorben ist), erfährt man nicht. Ebenso bleibt der Mann im Wald ein Rätsel. Ist es Auroras Mörder? Ihr Vater, der nach dem Tod seiner Tochter zusammenbrach? Einfach nur ein Einsiedler? Auch wer all die kleinen Leute sind, die da aus der toten Autora quellen, muss man sich selbst erklären. Vielleicht ihre Seele, durch ihren Tod in tausende Einzelteile zersprungen ist und am Ende alle Unschuld verloren hat?

Jenseits ist wie ein dunkles Märchen oder eine Fabel, in die man vieles hineinlesen kann. Am Ende der Lektüre fühlt man sich wie nach einem Alptraum, voller bunter Farben und lustiger Gestalten, bei dem man gar nicht mehr erklären kann, warum man schweißgebadet und mit rasendem Herzen aufgewacht ist.

Ein sehr beeindruckender Comic, der lange im Gedächtnis bleibt – aber der auch nicht jedem gefallen dürfte. Dafür ist er einfach zu verstören und beklemmend. Aber eben auch sehr einzigartig.

Jenseits
Kerascoët
Aus dem Französischen von Kai Wilksen 
Lettering von Dirk Rehm
96 Seiten, farbig, 25,5 x 19 cm, Klappenbroschur
ISBN 978-3-941099-30-2
EUR 18,00

Mit freundlicher Unterstützung von Reprodukt – auf dessen Seiten man auch eine Leseprobe findet.

5 Antworten zu “Lesestoff: Jenseits”

  1. irgendeine Userin 8. März 2012 um 13:45 #

    Hm.
    Hatte es nicht als verstörend und beklemmend erleben können.
    Fand den Band einfach nur langweilig.
    Aber so ist das.
    Manchen gefällt’s.
    Manchen nicht.
    Meins war’s nicht. 😉

    • eincomicleben 8. März 2012 um 17:49 #

      …anderen eben nicht 😉
      Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass „Jenseits“ nicht jedem gefällt. Ist eben sehr offen, die Geschichte und erklärt nicht viel. Aber verstörend fand ich zum Beispiel, als „Beerdigung“ gespielt wurde – und das mit jemandem, der sich um ein Baby kümmert. Oder wenn Jane (die rothaarige Frau) am Ende einfach mal so „weg“ ist…

  2. il_libraio 9. Dezember 2012 um 19:33 #

    Dem kann ich mich nur anschließen. Ein absolut großartiger Comic, der aber anscheinend leider kein großes Publikum gefunden hat.
    Neulich hab ich den Band einer Kollegin in die Hand gedrückt: Lies mal kurz rein. Hat sie dann direkt bis hinten durchgelesen 🙂
    Hab zu Jenseits übrigens kürzlich auch was geschrieben: http://analoglesen.wordpress.com/2012/11/26/jenseits-kerascoet/

    • eincomicleben 10. Dezember 2012 um 11:07 #

      Jenseits ist eben eine Geschichte, die nicht jedem gefällt. Es ist ein anspruchsvoller Comic, der sicher schwerer sein Publikum findet, als andere Titel. Aber das macht ihn nicht weniger beeindruckend.

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